Aufschiebeverhalten (Prokrastination)

Von Prokrastination spricht man, wenn eine Aufgabe trotz Gelegenheit und vorhandener Fähigkeit nicht, oder erst nach sehr langer Zeit durchgeführt wird und dies mit deutlichen Nachteilen einhergeht.

Prokrastination ist ein häufiges Thema in der Hochbegabtenberatung und kann mit verschiedenen HB-typischen Herausforderungen zusammenhängen:

  • Wenn der HB in der Schule nicht ausreichend gefordert war, hat er evtl. keine ausreichenden Selbstmanagementstrategien wie z.B. Selbstmotivation, Durchhaltevermögen oder Frustrationstoleranz entwickelt
  • Durch die Unterforderung hat er sich evtl. keine Lernstrategien angeeignet und weiß z.B. nicht, wie man den Zeitbedarf realistisch einschätzt oder den Stoff unterteilt. (s.a. Unterforderung)
  • Evtl. hat die Unterforderung zu einer AD(H)S- Symptomatik geführt
  • Evtl. leidet der HB unter einem tatsächlichen AD(H)S (s.a. AD(H)S)
  • Möglicherweise hat der HB ein Fixed-Mind-Set ausgebildet und Angst vor Herausforderungen und Versagen entwickelt (s.a. Fixed-Mind-Set)
  • Vielleicht befürchtet der HB abgelehnt zu werden, wenn seine Fähigkeiten sichtbar werden (s.a. Ambivalenzdilemma)
  • Evtl. bietet die Aufgabe zu wenig Anreize und der HB gerät in eine Unterforderungs- und Stresssituation

Meiner Erfahrung nach kann Aufschiebeverhalten langfristig nur selten durch die Anwendung reiner Techniken und Disziplin überwunden werden. Der Kern der Symptomatik besteht darin, dass die Aufgaben mit negativen Gefühlen und Zuständen, z.B. Stress, Überforderung, Minderwertigkeit oder Angst vor Versagen oder Bindungsverlust verknüpft sind. Dies löst Vermeidungsverhalten aus. Selbst wenn der Grund in einem „reinen“ AD(H)S liegen sollte, ist Disziplin ja ebenfalls ein Verhalten, das störungstypisch langfristig sehr schwer aufrechtzuerhalten ist. 

Deutlich effektiver (und auch angenehmer) ist der Ansatz, die negativen Gefühle zu reduzieren und die Aufgabe so gut es geht zu erleichtern und mit positiven Gefühlen zu koppeln.

Hierzu empfehle ich Vorgehen in Anlehnung an das Analyse- und Regulationsschema aus dem Training emotionaler Kompetenzen. Das Geschehen kann mit folgenden Fragen analysiert werden:

  1. Welches Gefühl habe ich bei den Aufgaben, bei denen ich prokrastiniere?
  2. Welche Aufgaben lösen Prokrastination aus?
    Z.B. Aufgaben, bei denen ich verglichen werde... bei denen ich mich langweile... die mir sehr umfangreich vorkommen... bei denen ich nicht weiß, was der erste Schritt ist... bei denen ich Angst habe, nicht außergewöhnlich gut abzuschneiden... oder, oder, oder....
  3. Welche Grundstimmung führt zu besonders starkem Prokrastinieren?
  4. Was passiert kognitiv beim Prokrastinieren: Worauf lenke ich meine Aufmerksamkeit, wenn ich prokrastiniere? Welche Gedanken habe ich? Welche inneren Interpretations- und Bewertungsprozesse finden statt?
  5. Welche Ziele, Erwartungen und Bedürfnisse spielen eine Rolle?
  6. Welche Lebenserfahrungen, Ängste und emotionalen Muster beeinflussen mich?
  7. Welche Körperreaktionen treten auf?
  8. Welche weiteren Gefühle werden ausgelöst (z.B. Scham, Ärger über mich selbst o.a.)
  9. Was würde ich am liebsten tun?
  10. Wie verhalte ich mich tatsächlich?
  11. Welche kurz- und welche langfristigen Vorteile bringt dieser Komplex mit sich?
  12. Welche kurz- und langfristigen Nachteile bringt dieser Komplex mit sich?

 

Nach dieser umfassenden Analyse kann man sehr differenziert beurteilen, wo die Schwierigkeiten liegen und gezielte Lösungsstrategien entwickeln.

 

  1. Die erste Frage ist, welches Gefühl einem helfen würde, die Aufgabe anzugehen.
  2. Dann sammelt man Lösungen, die das Gefühl entstehen lassen:
  • Wie könnte ich die Aufgabe oder die Situation verändern, damit das positive Gefühl entsteht? Hier greifen oft die üblichen Ratschläge zur Prokrastination: z.B. die Aufgabe in kleine Schritte unterteilen, kleine Zeiteinheiten mit klarem Anfangs- und Endpunkt, ausreichend Pausen, Ablenkungen minimieren, eine angenehme Atmosphäre schaffen u.ä.
  • Welche Grundstimmung hilft mir? Wie kann ich diese triggern?
  • Worauf sollte ich meine Aufmerksamkeit lenken, an was sollte ich mich erinnern, welche Gedanken sind hilfreich?
  • Sind meine Ziele und Erwartungen sinnvoll und realistisch oder führen sie zu negativen Gefühlen (Druck, Angst, Enttäuschung etc.)? Was wären hilfreiche und realistische Ziele und Erwartungen?
  • Sind meine Ängste und emotionalen Muster richtig und hilfreich oder sind es unrealistische und schädliche Generalsierungen, die in die Vergangenheit gehören? Welche Einstellungen und Glaubenssätze wären hilfreich, um das Zielgefühl zu erlangen?
  • Wie kann ich meinen Körper nutzen, um das Zielgefühl entstehen zu lassen?
    Z.B. Entspannungsübungen machen, eine bestimmte Körperhaltung einnehmen o.ä.?
  • Welche weiteren Gefühle würden mein Zielgefühl stützen (z.B. Freude, Spaß, Neugier, Zuversicht o.ä.). Was kann ich dafür tun?
  • Welches Verhalten stützt mein Zielgefühl? Dies kann alles Mögliche sein: Feedback einholen, sich gemütlich anziehen, Sport in den Pausen o.a.

Es ist oft sehr hilfreich, sich vor Augen zu führen, dass sich, wie man sich verhält, in sehr kurzen Momenten entscheidet. Man hat ein unangenehmes Gefühl bei dem Gedanken an die Aufgabe und geht in die Vermeidung. Wenn man dies immer wieder macht, wird es ein Verhaltensmuster. Dieses kann man dadurch ändern, dass man in kleinen Momenten das negative Gefühl bewußt aushält und seinem Plan folgt. Das ist in dem Moment tatsächlich anstrengend und diese Anstrengung muß man auf sich nehmen, aber das Gefühl verändert sich meist ziemlich schnell und wenn es wiederkommt, muss man es auch wieder nur kurz aushalten.
Etwas anders ist es bei AD(H)S und fortbestehender Unterforderung, hier bleibt das negative Gefühl oft bestehen oder baut sich mehr und mehr auf. In diesen Fällen sollte man dafür sorgen, dass die Anstrengungsphasen einen nicht überfordern, indem man sie z.B. kurz hält, mit anderem mischt o.ä..

Abschließend noch der Tipp, dass es am erfolgreichsten ist, Prokrastination in kleinen Schritten zu verändern. Wenn man sich zu viel auf einmal vornimmt, besteht die Gefahr, dass man es nicht schafft, dadurch wieder ein negatives Gefühl und ein Teufelskreis entsteht. Also sollte man sich lieber kleine und erreichbare Ziele setzen, durch die Erfolgserlebnisse entstehen. Außerdem rate ich, mindestens eine Aufgabe übrig zu behalten, bei der man weiter prokrastiniert. Es wäre für die Umwelt unerträglich, wenn man plötzlich alles kann. Seien Sie nett zu Ihren Mitmenschen ;-).

 

Falls Sie sich tiefergehend mit diesem Ansatz beschäftigen möchten, finden Sie hier den einstündigen Onlinevortrag "Prokrastination und Ihre emotionalen Grundlagen". Der Vortrag wurde in der Reihe "Mensa goes Science" gehalten.  

Seminare und Informationen zum Thema finden Sie hier:

 

Erledigt statt Aufgeschoben!  Ein Seminar zum Thema Prokrastination

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